Zeichen setzen: Gewalt hat viele Gesichter

Haben Sie, kör­per­li­che oder see­li­sche Gewalt erfah­ren? Viel­leicht als Kind, jun­ge Frau oder als Erwach­se­ne? Wenn Sie wol­len, schrei­ben Sie die­se Erfahrung(en) auf. Viel­leicht ver­än­dern Sie Namen und Orte. Schrei­ben Sie die Geschich­te aber so wahr­haf­tig, wie mög­lich. Wenn Sie wol­len, schi­cken Sie mir die­se Geschich­ten via Email: info@mpm-langschwert.de. Wir spre­chen dann über die Geschich­te – und wenn bei­de Sei­ten ein­ver­stan­den sind, ver­öf­fent­li­chen wir sie auf die­ser Webseite?

Die Geschich­te muss nicht schön geschrie­ben sein. Sie darf Recht­schreib­feh­ler haben. Sie muss nicht lang sein. Sie muss nur wahr und von Ihnen wirk­lich erlebt sein. Das wird ande­re Frau­en dazu moti­vie­ren, eben­falls ihre Geschich­te zu ver­öf­fent­li­chen. Viel­leicht bewegt sich dadurch was?

Wenn täg­lich nicht län­ger als 10 Minu­ten an der Geschich­te schrei­ben und mög­li­cher­wei­se immer wie­der neu anset­zen, ver­hin­dern Sie, dass bereits ver­heil­te Wun­den wie­der schmerzen.

Hier die ers­ten Beispiele:

 

11.08.2023

Mobbing

War­um? Die­se Fra­ge quält mich seit jener Zeit immer wie­der. Hät­te es anders lau­fen kön­nen? Tra­ge ich Mit­schuld, an dem was und wie es kam?

Nach fünf­zehn Jah­ren der Arbeit mit Vor­schul­kin­dern hat­te ich beschlos­sen, mir ein Sab­bat­jahr zu leis­ten. Ich woll­te mich erho­len, mich neu aus­rich­ten und der Fra­ge nach­ge­hen, ob eine beruf­li­che oder pri­va­te Ver­än­de­rung anstand. Zunächst ver­schlug es mich auf die Hal­lig Hoo­ge, wo ich drei Mona­te lang „Hand gegen Koje“ für die Gemein­de arbeitete.

Wie­der zuhau­se folg­te ich der Ein­la­dung von Pia, Kon­rek­to­rin einer För­der­schu­le, sie dort zu besu­chen und ihrem Unter­richt eine Wei­le zu hos­pi­tie­ren. Pia hat­te ich im ver­gan­ge­nen Som­mer ken­nen­ge­lernt, als sie an mei­ner Arbeits­stel­le Kin­der beob­ach­te­te, die ich zur Ein­schu­lung ans För­der­zen­trum ver­wie­sen hat­te. Nach ihrer Hos­pi­ta­ti­on in mei­nen Stun­den hat­ten wir sei­ner­zeit einen sehr fun­dier­ten fach­li­chen Aus­tausch und moch­ten uns auf Anhieb.

An jenem Tag im Janu­ar 2012 kam mir Pia im Schul­haus sehr herz­lich ent­ge­gen. Ich war auf­ge­regt, als wie selbst frisch ein­ge­schult.  Ich beglei­te­te Pia in ihre Klas­se und sie stell­te mich den Kin­dern als neue Leh­re­rin vor. Ich wur­de ihre Assis­ten­tin und arbei­tet als­bald selb­stän­dig mit Klein­grup­pen. Ich fühl­te mich in mei­nen Kom­pe­ten­zen sehr von ihr wert­ge­schätzt, auf Augen­hö­he, fand den fach­li­chen Aus­tausch hoch inter­es­sant und genoss es, so oft ich woll­te, mich aktiv gestal­tend ein­zu­brin­gen, ohne die allei­ni­ge Ver­ant­wor­tung tra­gen zu müs­sen. So wur­den aus einem kur­zen Gegen­be­such 8 Mona­te, in denen ich ehren­amt­lich am För­der­zen­trum hos­pi­tier­te, bzw. dort selb­stän­dig eige­ne Auf­ga­ben und Ein­zel­för­de­run­gen übernahm.

Pia setz­te sich für eine Auf­wands­ent­schä­di­gung durch den För­der­ver­ein ein. Nicht viel, aber ein Taschen­geld war es doch.

Mir berei­te­te die Zusam­men­ar­beit mit Pia so viel Freu­de, dass ich Lust hat­te, an der Schu­le zu blei­ben. Es ergab sich die Mög­lich­keit dies als Heil­päd­ago­gi­sche För­der­leh­re­rin zu tun und eine Grup­pe der SVE (Schul­vor­be­rei­ten­den Ein­rich­tung) zu über­neh­men. Die War­nun­gen von Jut­ta, jener Kol­le­gin, deren Stel­le frei wur­de, Pia habe auch ein ande­res Gesicht und sei nicht immer so nett, woll­te ich nicht hören. Jut­ta fühl­te sich von der Schul­lei­tung allein gelas­sen, die Bedin­gun­gen sei­en schlecht und das Gehalt miserabel.

Ich hin­ge­gen ver­trau­te Pia und Wer­ner, dem Schul­lei­ter. Sie hat­ten mir ver­spro­chen, ich bekä­me das glei­che Gehalt, wie an mei­ner vor­he­ri­gen Stel­le. Sie wür­den sich per­sön­lich dafür einsetzen.

Als Pia mich warn­te und mein­te, als Che­fin sei sie nicht immer so nett, konn­te ich mir das über­haupt nicht vor­stel­len. So kün­dig­te ich mei­ne siche­re Stel­le und wech­sel­te an die Schu­le. Ich war stolz jetzt auch im Schul­dienst zu ste­hen, wie der Rest mei­ner Fami­lie und gemein­sam vie­le Feri­en zu haben.

Das bit­te­re Erwa­chen kam nach und nach. Zunächst blieb das ver­spro­che­ne Gehalt aus. Erst im Dezem­ber kam end­lich der Bescheid. Und – o wehe – statt der Ein­stu­fung in mei­ne bis­he­ri­ge Gehalts­grup­pe zeig­te der ers­te Lohn­zet­tel, dass ich in die nied­rigs­te Gehalts­stu­fe ein­ge­stuft wor­den war: 1300 € Net­to bei Vollzeit.

Pre­kär war zudem, dass nach dem Sab­bat­jahr mei­ne Erspar­nis­se voll­stän­dig auf­ge­braucht waren und ich in der Schu­le nun weni­ger Geld bekam als im ers­ten Jahr nach mei­ner Ausbildung.

Von heu­te auf mor­gen war mei­ne bis dato gute beruf­li­che Posi­ti­on fast nichts mehr wert. Ich ärger­te mich sehr über die­ses Gemau­schel und dass Pia und Wer­ner in die­sem Punkt mir gegen­über nicht ehr­lich genug gewe­sen waren. Sie hät­ten mich vor­war­nen müs­sen, dass die Spiel­re­gel „Ober sticht Unter“ beson­ders für die Ange­stell­ten des Frei­staats Bay­ern gilt.

Die Fra­ge einer ver­gleich­ba­ren Ein­stu­fung war für mich näm­lich die Vor­aus­set­zung gewe­sen, mei­ne siche­re Stel­le an der alten Ein­rich­tung aufzugeben.

In den ers­ten bei­den Jah­ren arran­gier­te ich mich inner­lich trotz­dem noch mit allem. Ich hoff­te, die Din­ge wür­den sich von sel­ber bes­sern, lie­ßen sich klä­ren. So man­che Ent­täu­schung schluck­te ich her­un­ter, tat man­ches als „typisch Schu­le“ ab.

Par­al­lel dazu kühl­te sich das Ver­hält­nis zu Pia immer deut­li­cher ab. In den ers­ten Kon­fe­ren­zen, lob­te sie mich vor allen Kol­le­gin­nen noch in den höchs­ten Tönen, teil­te mir Son­der­auf­ga­ben zu, so dass ich mich beson­ders wert­ge­schätzt fühlte.

Die­ses Ver­hal­ten ver­än­der­te sich lang­sam.  Immer öfter reagier­te sie auf mich, auf Ein­wür­fe oder Fra­gen unwirsch, unge­dul­dig und unge­recht. Manch­mal frag­ten mich sogar Kol­le­gin­nen danach, was los sei. Ich wuss­te es nicht.

Im zwei­ten Jahr erhielt ich, gemein­sam mit einer Son­der­päd­ago­gin, die seit vie­len Jah­ren an der Schu­le tätig war, die Auf­ga­be, das bestehen­de Test­ver­fah­ren für die Ein­schu­lung zu über­ar­bei­ten und eini­ge Ele­men­te auf der Grund­la­ge neu­er Erkennt­nis­se zu ent­wer­fen. Ich fühl­te mich geehrt und ging mit viel Freu­de an die Auf­ga­be, denn dar­in konn­te ich mei­ne Fach­lich­keit, mei­ne Erfah­rung und Krea­ti­vi­tät ein­brin­gen. Mit der Kol­le­gin ent­wi­ckel­te sich ein frucht­ba­res Mit­ein­an­der. Als wir unse­re Ideen in einer Kon­fe­renz dem Kol­le­gi­um vor­stell­ten, stie­ßen wir auf Inter­es­se und posi­ti­ve Resonanz.

Doch Pia reagier­te kalt und sau­er. Die Son­der­auf­ga­be wur­de mir von heu­te auf mor­gen weg­ge­nom­men, eben­so wie mei­ne Tätig­keit als Bera­te­rin für Kin­der­gär­ten. Auch hier waren mei­ne zunächst wohl­wol­lend ange­nom­me­nen Ver­bes­se­rungs­vor­schlä­ge und mein kri­ti­scher Blick auf die per­so­nel­le Situa­ti­on der Ein­rich­tun­gen, plötz­lich uner­wünscht. Ich bekam das Gefühl mei­ne Kom­pe­ten­zen über­schrit­ten zu haben. Mein Berufs­ethos ver­bot es mir jedoch die Miss­stän­de, in den Ein­rich­tun­gen, die ich beriet, unkom­men­tiert zu lassen.

Das Team um Pia schloss mich von nun an sys­te­ma­tisch von allem aus.

Als mich Pia dann an einem Vor­mit­tag wäh­rend der gro­ßen Pau­se vor dem gesam­ten Kol­le­gi­um und allen Schü­lern bei offe­nen Türen in einem Wut­an­fall zusam­men­schrie, und ich danach tage­lang wie para­ly­siert rum­lief, führ­te die­se Erfah­rung von ver­ba­ler Gewalt dazu, dass ich end­lich den Absprung schaffte.

Auf der Heim­fahrt über­leg­te ich ernst­haft, an einen Baum zu fah­ren, da ich psy­chisch so am Ende war. Ich hat­te über Jah­re das Bes­te gege­ben und das Bes­te gewollt und es war doch so dane­ben­ge­gan­gen. Ich war wütend und ver­zwei­felt in einem. Gegen eine nar­ziss­ti­sche Che­fin war und ist nicht anzukommen.

Wenn ich heu­te auf mei­ne Anfangs­fra­ge zurück­bli­cke, liegt mei­ne Ver­ant­wor­tung dar­in, mei­nen ungu­ten Gefüh­len zu lan­ge nicht getraut und stän­dig an mir gezwei­felt zu haben. Da ich die Schuld bei mir such­te, zeig­te ich immer noch mehr Enga­ge­ment, statt mich früh genug nach einer neu­en Stel­le umge­se­hen zu haben, in der mei­ne Fähig­kei­ten und mein eigen­stän­di­ges Den­ken wirk­lich gewür­digt werden.

 

05.08.2023

Aus Kindertagen

Ein son­ni­ger Tag, doch schon zerrt der ers­te Herbst­sturm an den Blät­tern des Ahorn­bau­mes vor dem Fens­ter. Rot gefärbt tau­meln sie zur Erde.

In der klei­nen Wohn­kü­che spielt Mut­ti auf dem Akkor­de­on lus­ti­ge Lie­der. Die Kin­der lie­ben das. Der  9‑jährige Micha und sei­ne 13 Mona­te jün­ge­re Schwes­ter Anna sin­gen vol­ler Inbrunst: „In einen Harung jung und schlank…. Und „Auf de schwäbsche Eise­bah­ne…“. Anna hüpft ver­gnügt her­um und ver­sucht, die letz­ten Son­nen­strah­len an der Wand des Zim­mers zu erhaschen.

Die Türe geht auf. Karl, der Mann, den die Kin­der seit kur­zem Papa nen­nen sol­len, kommt her­ein. Er legt eine Tüte mit Geld auf den Tisch. Mut­ti sagt: „Gut, das brau­chen wir drin­gend. Bald kommt der Win­ter. Ich muss den Kin­dern neue Schu­he kau­fen.“ Papa riecht komisch. „Was soll das hei­ßen, neue Schu­he?“ lallt er. „Sol­len sie doch bar­fuß lau­fen! Wir haben als Kin­der auch kei­ne neu­en Schu­he gehabt und wenn’s kalt war, hat man sich halt in einen Kuh­fla­den gestellt!“

Mut­ti sagt: „Aber mei­ne Kin­der brau­chen Schu­he! Dann gehe ich eben in die Fabrik und arbeite!“

Nichts tust du! Du bleibst gefäl­ligst hier! Und jetzt schau, dass du was zu essen auf den Tisch bringst!“ Mut­ti weint.

Halt den Mund, du!“ Er herrscht sie an und erhebt dro­hend sei­ne Hand gegen sie. Anna greift Mut­tis geblüm­te Schür­ze, will…, ja was will sie?

Nicht schla­gen, bit­te!”, wim­mert Anna.

Der Mann schiebt das Mäd­chen bei­sei­te, greift Mut­ti in die Haa­re. „Komm her, du“, sagt er und umfasst ihre Tail­le. Er drängt sie in Rich­tung Schlaf­zim­mer, wo das Baby Sabi­ne schläft. „Ich muss aber noch Milch kau­fen!“ ruft Mut­ti. Sie reißt sich los und greift rasch nach dem Geld und dem Ein­kaufs­netz. Es ist ein schwar­zes, löch­ri­ges Netz mit zwei Hen­keln zum Tra­gen. Manch­mal ver­hän­gen sich Din­ge dar­in. Man bekommt sie dann kaum her­aus, ohne, dass sie kaputt­ge­hen. Micha wit­tert die Gele­gen­heit, aus der Schuss­li­nie zu gelan­gen und rennt ins Freie, bevor auch Mut­ti die Türe von außen zuschlägt.

Anna ver­kriecht sich im „Klo“. Mit beben­den Hän­den sperrt sie die Türe ab. Nach einer Wei­le hört sie Papa im Wohn­zim­mer schnar­chen. Vor­sich­tig kommt sie her­aus, sieht Papa schla­fend auf dem Sofa liegen.

Anna deckt auf Zehen­spit­zen den Tisch. „Nur nicht auf­fal­len,“ denkt sie. Ohje, dann klap­pert doch ein Tel­ler. „Mist!“ durch­fährt es Anna. Papa blin­zelt. „Komm her mei­ne Klei­ne!“ sagt er. „Jetzt will ich dir mal was zei­gen! Du darfst es aber nie­man­dem ver­ra­ten, sonst pas­siert was ganz Schlim­mes!“ Er zerrt das Kind zu sich auf’s Sofa. Anna will nicht. Sie strampelt.

Komm her, du klei­ne Schne­cke, du“.

Er hält Anna fest. Er stinkt. Anna dreht den Kopf weg. Was dann pas­siert, will Anna aber lie­ber nicht erzäh­len. Erst Jahr­zehn­te spä­ter schämt sie sich nicht mehr dafür.

Papa ist wie­der ein­ge­schla­fen. Er hört nicht, dass das Baby schreit. Anna geht ins Schlaf­zim­mer, nimmt das Kind hoch und wiegt es in ihren Armen. In drei Mona­ten wird Anna 9 Jah­re alt und weiß instink­tiv: Kin­der müs­sen beschützt wer­den. Die Klei­ne hört auf zu wei­nen. Ihr Kör­per­chen bebt und zit­tert noch. Annas auch, aber das sieht nie­mand. Außer­dem ist sie ja „die Gro­ße“, wie Mut­ti immer sagt. Und Anna fasst für sich den Ent­schluss: „Ich wer­de spä­ter ganz schnell mein eige­nes Geld ver­die­nen. Dann zie­he ich aus und brau­che kei­ne Angst mehr zu haben.“

Jah­re spä­ter – längst nach­dem sie ihrem Stief­va­ter einen kräf­ti­gen Fuß­tritt ver­passt und ihn ange­herrscht hat mit den Wor­ten „Lass mich end­lich in Ruhe!“ – glaubt sie manch­mal, sie sei ja gar nicht dabei gewe­sen, weil es sie näm­lich gar nicht gibt. Selt­sam unwirk­lich kommt ihr dann das Dasein vor und sie wun­dert sich über die Per­so­nen da drau­ßen, wie sie reden und lachen. Irgend­wie gehört sie nicht dazu. Nun ja, nicht so schlimm! Sie hat ja ihre Bücher! In der Stadt­bü­che­rei leiht sie sich manch­mal gleich fünf Bücher in der Woche aus. Was für Herr­lich­kei­ten es dort gibt! Sie liest alle Mär­chen von Hauff, Chris­ti­an Anders­sen und den Gebrü­dern Grimm, Sagen über Sieg­fried, Kriem­hild und Lan­ce­lot (Artus­sa­gen), spä­ter dann Erzäh­lun­gen über die Anfän­ge der Medi­zin, über gro­ße Chir­ur­gen wie Sau­er­bruch und den Ent­de­cker der Tuber­kel-Bazil­len (Robert Koch), des Peni­cil­lins (Alex­an­der Fle­ming) und des Kind­bett­fie­bers (Ignaz Sem­mel­weis). All das inter­es­siert Anna sehr, denn sie will Ärz­tin wer­den. Lei­der klappt das dann aber doch nicht, denn dafür hät­te sie ihren Stief­va­ter um Geld für ein Stu­di­um bit­ten müs­sen und sie hät­te sich lie­ber die Zun­ge abge­bis­sen, als das zu tun.

Lan­ge schweigt Anna über das, was „Papa“ mit ihr gemacht hat. Sie schämt sich und will ihrer Fami­lie kei­ne Schan­de machen. Erst Jahr­zehn­te spä­ter, nach vie­len psy­cho­lo­gi­schen Kur­sen und Semi­na­ren wird ihr immer kla­rer, wie wich­tig es ist, über trau­ma­ti­sche Erleb­nis­se zu reden, oder sie sich ein­fach von der See­le zu schrei­ben. War­um das so ist? Ers­tens: Nur so kön­nen ein­ge­fro­re­ne Gefüh­le wie­der flie­ßen und zwei­tens kann man durch’s sich Mit­tei­len auch ande­re ermu­ti­gen, ihre Geheim­nis­se aus den alten, stin­ken­den Ein­mach­glä­sern im Kel­ler der See­le ans Licht zu holen. Dann ver­lie­ren die­se näm­lich ihren Schrecken.

Das Aller­bes­te aber ist: Durch das vie­le Erzäh­len dar­über erlebt Anna, dass die dunk­len Erleb­nis­se – glei­cher­ma­ßen wie die fröh­li­chen und hei­te­ren – Teil ihres Lebens sind. Sie gehö­ren untrenn­bar zu ihr, genau­so wie ihre Hän­de, die Fal­ten in ihrem Gesicht und ihr Herz. Letz­te­res ist übri­gens beson­ders wich­tig, denn seit­dem Anna sich nicht mehr klein macht und ver­ur­teilt, son­dern gelernt hat auf ihr Herz zu hören und sich so lieb­zu­ha­ben, wie sie nun mal ist, geht es ihr auch mit den Geschich­ten ihres Lebens bes­ser. Wor­an das liegt? Heu­te sagt Anna: Am meis­ten gehol­fen habe ihr das gewach­se­ne Bewusst­sein dar­über, dass sie selbst die Wahl hat. Sie kann näm­lich ent­we­der den Weg des Ver­leug­nens, des Kämp­fens und des Urtei­lens gehen, oder aber den Weg der Akzep­tanz und der Liebe.

Und Anna hat sich entschieden.

 

28.07.2023

Ausflug

Es ist Abend, fast Nacht. Die Wesen haben den Dschun­gel wie­der über­nom­men. Dun­kel und dicht die Sil­hou­et­ten der Urwald­rie­sen vor dem nacht­blau­en Him­mel. Gekrei­sche, Kräch­zen, Brül­len und unheim­li­che Stil­le fin­den in den klei­nen Raum, in dem die Glüh­bir­ne von der Decke baumelt.

Ein Hotel, ein Zufluchts­ort inmit­ten die­ses dunk­len Para­die­ses. Der letz­te Bus ist schon am hel­len Tag gefah­ren. Die beru­hi­gen­de Wir­kung des gerauch­ten Krauts lässt lang­sam nach.

Sie kau­ert sich in den zer­schlis­se­nen Ses­sel, zieht die nack­ten Kniee bis ans Kinn. Sie ist wild ent­schlos­sen, die küh­le Nacht hier im Ses­sel zu ver­brin­gen. Doch die Ruhe ist ihr nicht ver­gönnt. Wie ein Pan­ther schleicht es sich wie­der und wie­der an, springt auf den Ses­sel. Es ist ganz Tier, ganz For­de­rung, ganz nah.

Sie ahnt, dass ihre Flucht nichts brin­gen wird. Lang genug hat sie es schon ver­sucht. Doch sie will nicht auf­ge­ben. Sie springt zurück zur Bett­kan­te. Er nach. Es ist klar, was er will, sei­nen Tri­but. Die gro­ße . jun­ge wei­ße Frau, die sei­nen Wün­schen zu die­nen hat.

Er hat alles minu­ti­ös geplant: den Aus­flug, die Dro­ge, das Hotel. Den klei­nen Obo­lus an die Rezep­tio­nis­tin ist ihm der Spaß wert. Sie wird behaup­ten, dass nur die­ses Dop­pel­zim­mer frei ist und ansons­ten das hol­pe­ri­ge Spa­nisch der Frau nicht verstehen.

Nie­mand wird sei­ne Plä­ne durch­kreu­zen. Die Land­ar­bei­ter, die im Foy­er ihren Lohn ver­sau­fen, bekom­men von ihm noch eine Extra-Fla­sche Tequi­la spen­diert. Sie wer­den ihm nicht in die Que­re kommen.

Nie­mand hat Mit­leid mit einer Gringa. Schließ­lich sind die Grin­gos an ihrer aller Mise­re schuld. Und einer die­ser arro­gan­ten Grin­gos zu zei­gen, wo ihr Platz wirk­lich ist, das ist doch Ehren­sa­che. Da sieht die mal, was ech­te Lati­nos sind. Dafür kom­men die doch in unser Land. Nur dafür. So eine wird uns nie wie­der demü­ti­gen mit ihrer Hoch­nä­sig­keit, mit ihrer kal­ten Schul­ter. Nie wie­der. Er wird das schaffen.

Er schafft es. Irgend­wann kann sie nicht mehr. Irgend­wann ist sie des stän­di­gen Wech­sels zwi­schen Bett und Ses­sel müde. Irgend­wann stirbt etwas in ihr und ihr Kör­per gibt auf. Aber sie ist nicht mehr da. Sie ist weit, weit weg. Sie bemerkt, wie er auf ihr kau­ert, in sie dringt, stößt und stößt und stößt und sich dabei an ihrem Hals festsaugt.

Als sich das Mor­gen­grau­en zeigt, rafft sie ihre Klei­der zusam­men und flieht aus dem Haus der schnar­chen­den Män­ner und eilt zum Bus. Dar­in sitzt eine ande­re jun­ge wei­ße Frau, deran­giert mit ver­quol­le­nem Gesicht. Sie sehen sich an – wis­sen und igno­rie­ren sich. Scham will nicht geteilt sein.